Schluß mit dem Frühförderwahn Wie Kinder lernen

Schluss mit dem Frühförderwahn

Spass und Sinnerfüllung sind die Erfolgsfaktoren beim frühkindlichen Lernen

Spass beim Lernen und ein anregendes Umfeld fördern die Hirnentwicklung bei Kleinkindern. (Bild: Imago)Zoom

Spass beim Lernen und ein anregendes Umfeld fördern die Hirnentwicklung bei Kleinkindern. (Bild: Imago)

Das Gehirn von Kleinkindern ist wunderbar aufnahmefähig. Doch kindgerechtes Lernen ist gemäss Experten nicht Faktenvermittlung in Kursen, sondern Bewältigung des Alltags und vielfältige Interaktionen beim Spielen.

Stephanie Lahrtz

Die frühe Förderung von Kindern ist wichtig für ihren späteren schulischen wie auch beruflichen Erfolg. Doch offenbar gehen die Ansichten darüber, was denn nun genau unter Stimulation des kindlichen Gehirns und Bildung im Vorschulalter gemeint ist, weit auseinander. Für viele bedeutet Frühförderung mittlerweile eine Vielzahl von Kursen und kostenpflichtigen Angeboten in musischen, sprachlichen, sportlichen, naturwissenschaftlichen oder sonstigen Bereichen. Fast alle Anbieter berufen sich auf die modernsten Erkenntnisse der Wissenschaften. Doch immer öfter stellen gerade Wissenschafter viele Angebote dieser Art infrage.

Gigantischer Gehirnumbau

Zweifellos wissen wir heute dank einer Vielzahl neurobiologischer und entwicklungspsychologischer Studien und Untersuchungen mit Kindern jeglichen Alters, dass sich das Gehirn nach der Geburt sehr stark verändert. Dann werden vor allem die Areale, die für höhere kognitive Fähigkeiten zuständig sind, regelrecht umgebaut. Die bereits bei der Geburt vorhandenen Milliarden von Nervenzellen werden zuerst auf vielfältigste Weise miteinander verschaltet. Während eine Nervenzelle eines Neugeborenen durchschnittlich 2500 Kontaktpunkte mit anderen Nervenzellen aufweist, gibt es bei Kleinkindern bis zu 15 000 solcher Verknüpfungspunkte. Somit wird das Netz der möglichen Interaktionen immer dichter. Am Ende des ersten Lebensjahres existieren am meisten Kontaktstellen und weitaus mehr als bei Erwachsenen. Bis ins Jugendalter werden jedoch viele dieser Kontakte wieder abgebaut. Dies geschieht in den diversen Gehirnarealen zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Experten gehen davon aus, dass nur diejenigen Kontakte erhalten bleiben, die oft genutzt werden.

Wie bei Erwachsenen gezeigt besitzen diejenigen Areale im Gehirn, die man im Berufsalltag oft benötigt, mehr Kontaktstellen und sind somit leistungsfähiger. So sind bei Taxifahrern die Bereiche für Orientierung stärker ausgebaut als bei normalen Verkehrsteilnehmern oder bei Musikern die Bereiche, die fürs Hören von Tönen, aber auch die jeweils benötigten Handbewegungen zuständig sind. Diese Erkenntnisse veranlassten Neurobiologen, Pädagogen und natürlich auch Eltern zu der Annahme, dass man, um ein besonders leistungsfähiges Gehirn zu erhalten, Kinder mit diversen Angeboten dazu animieren sollte, möglichst viele Gehirnareale oft zu benutzen.

So sollten schon im Vorschulalter Experimentierkurse das Physikverständnis erhöhen oder Sprachkurse das Erlernen einer akzentfreien zweiten Sprache neben der Muttersprache ermöglichen. «Es gibt allerdings keinerlei wissenschaftliche Daten, die zeigen, dass Lernkurse- und -programme für Vorschulkinder diese schlauer machen», betont Sabina Pauen, die als Entwicklungspsychologin an der Universität Heidelberg seit Jahren die kindliche Entwicklung erforscht. Man könne momentan allenfalls vermuten, dass von aussen gesetzte Stimuli wie diverse Lernprogramme die Gehirnentwicklung dauerhaft beeinflussen könnten.

So wisse man aus Beobachtungen zweisprachig aufgewachsener Kinder, dass diese sich meist beim Erwerb einer dritten oder vierten Sprache leichter täten. Und man habe auch durch bildgebende Verfahren festgestellt, dass diese beiden Sprachen im Gehirn besser miteinander vernetzt seien als bei Personen, die eine zweite Sprache erst in der Schule erlernten. «Aber dies bedeutet überhaupt nicht, dass jedes Kind, welches im Vorschulalter eine Fremdsprache präsentiert bekommt, tatsächlich mehrere Sprachen leicht und nahezu akzentfrei lernen kann», sagt Pauen.

Gerald Hüther, Neurobiologe an der Universität Göttingen, ist sogar der Überzeugung, dass Kinder eine zweite Sprache oder auch naturwissenschaftliche Phänomene nur dann vor der Schule lernten, wenn dies ihnen erstens Spass mache und sie vor allem zweitens einen Sinn darin sähen. «Kinder behalten nur dann etwas dauerhaft, sprich gewisse Gehirnbereiche verändern sich nur dann, wenn das Gelernte mit einer Emotion verbunden ist.» Eine zweite Sprache zu erlernen, um mit einem Elternteil zu kommunizieren, verschaffe Erfolge. Aber in einer deutschsprachigen Umgebung chinesische Verse einzustudieren, sei für ein Kind vollkommen sinnfrei und könne deshalb dauerhaft keinen Nutzen bringen.

Ähnlich verhalte es sich auch mit anderen Lernprogrammen, sind Hüther und Pauen überzeugt. Förderkurse und Lernprogramme seien viel zu oft an Kriterien der reinen Wissens- und Faktenvermittlung der Erwachsenenwelt ausgerichtet und nicht an den kindlichen Bedürfnissen, die Welt im Spiel zu entdecken, kritisiert Sonja Perren, Professorin an der Pädagogischen Hochschule Thurgau und der Universität Konstanz.

Der Impuls, sich mit Neuem zu befassen, müsse immer vom Kind ausgehen, damit Lernen gelingen könne, fordert Hüther. Eltern oder Betreuerinnen in Kindertagesstätten müssten deshalb immer auf die Interessen des jeweiligen Kindes achten. Das bedeute allerdings nicht, dass man den Kindern nichts anbieten sollte, betont Pauen. Erwachsene sollten neues Wissen präsentieren, aber dabei darauf achten, ob es dem Kind auch gefalle. Ist dies der Fall, könne auch ein Kurs mit spanischen Liedern und Tänzen oder auch mit Experimenten in der Natur für manche Kinder interessant sein. «Man sollte nur kein schulisch erfolgreicheres Kind dadurch erwarten», meint Pauen.

Können Kurse schaden?

Wichtig fürs Lernen sei für Kinder ganz besonders die Umgebung, betonen alle Experten. Nur wenn ein Kind sich geliebt, geachtet, sicher und sich vor allem als einzigartiges Individuum akzeptiert fühle, sei es aufnahmefähig und bereit, sich auf Neues einzulassen. Eltern müssten deshalb vor allem eine stabile positive Bindung zu ihrem Kind aufbauen, statt es mit Kursinhalten vollzustopfen, fordert Hüther.

Kinder lernten im von ihnen gestalteten, also wirklich freien Spiel mit anderen Kindern aller Altersgruppen am meisten, ist der Neurobiologe überzeugt. Gruppeninteraktionen wie auch die Bewältigung unseres normalen Alltags, der für Kinder ein hohes Mass an Komplexität aufweist, seien das beste Lernangebot, das man machen könne. Denn genau dafür sei unser menschliches Gehirn von Beginn an angelegt. In einer gemischten Gruppe gingen spielende, interagierende Kinder intuitiv genau an ihre jeweilige Leistungsgrenzen und würden nicht über- oder unterfordert, wie es in Kursen oft der Fall ist.

Viele Experten überlegen mittlerweile sogar, ob Lernprogramme Kleinkindern allenfalls schaden könnten. Der Besuch eines einzigen Kurses sei sicher kein negativer Stress für das Kind, auch wenn es ihm dort nicht gefallen sollte, sind Pauen und Perren überzeugt. Allerdings könne sich durchaus ein Beziehungsproblem zwischen Eltern und Kind entwickeln, wenn Eltern ständig einen hohen Erwartungsdruck auf ihre Kinder ausübten, meint Hüther. Kinder erhielten dann das Signal, dass ihre Eltern sie ständig für verbesserungsfähig hielten. Und das wirke sich nachgewiesenermassen sehr nachteilig auf das Selbstwertgefühl der Kinder und ihren Umgang mit der Welt aus.

 

 

Quelle:NZZ Online

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